Mit dem Vorlesen wurden die Geschichten einer wesentlichen Fähigkeit beraubt, die ihnen die Wirkungsweise der mündlichen Überlieferung bewahrt hatte: sich zu verändern, zu verzweigen, zu vermischen und neue Formen anzunehmen, sowohl inhaltlich als auch sprachlich. Mit der Fixierung sind die Geschichten in der Fassung des jeweiligen gewählten Textes erstarrt.
Will man die mündliche Kultur neu beleben, ist es notwendig, das Korsett gedruckter Texte abzulegen und so weit irgend möglich, auf Schriftlichkeit zu verzichten. Natürlich entstehen im selben
Moment divergierende Fassungen eine Stoffes, mit unter Umständen sich sogar widersprechenden Deutungen, aber genau diese Vielfalt ist ein typisches Kennzeichen einer lebendigen Mündlichkeit, und
ihre Gesetze sind äusserst tolerant und grausam zugleich gegenüber ihren Objekten: alles ist möglich, aber wenn es die Begeisterung des Publikums (des nächsten Gliedes in der
Überlieferungskette!) nicht zu wecken vermag, ist es spätestens mit dem Ableben des Erzählenden für immer verloren. Durch diesen, durch die Jahrhunderte wirksamen Prozess der Neuentstehung und
des Verschwindens von Motivkombinationen haben die Stoffe der mündlichen Überlieferung ihre einzigartige Kraft erhalten.
Martin Ellrodt: Von der Sprechübung zum freien Erzählen. Epubli.de, 3. Aufl. 2016. S. 88
978-3-7375-9242-0